Zur Krise der Männlichkeit

"Diese Utopie von Rosa Mayreder hat in den heutigen Debatten über die postmoderne Lebensform eine erstaunliche Aktualität wiedergewonnen. Sie verdankt ihre Kohärenz und Überzeugungskraft dem großem Scharfblick, mit dem Rosa Mayreder einerseits die unerhört akute Identitätskrise der Männer in der Moderne diagnostizierte und andererseits bestimmte Schwächen im theoretischen Diskurs der Frauenbewegung ihrer Zeit aufdeckte."

"Vielleicht ist eine der wichtigsten Entstehungsbedingungen der Frauenbewegung innerhalb des männlichen Geschlechtes zu suchen."
Rosa Mayreder und die Krise der modernen Männlichkeit

- von Jacques Le Rider (1989)
Dem Psychoanalytiker D.W. Winnicott verdanken wir einige aufschlußreiche Betrachtungen zum Problem der Bisexualität. Für Winnicott lassen sich "männlich" im Sinne einer aktiven oder passiven Verbindung zum Objekt und "weiblich" im Sinne einer fusioneilen Introjektion des Objekts ins Ich definieren. Nur der Zustand der Verschmelzung von Ich und Nicht- Ich schafft die Basis für das Gefühl der Identität. Das Erlebnis des Einsseins gibt die Voraussetzung für spätere Erlebnisse des Mit-Seins und für Identifikationen. Also müßte man laut Winnicott die herkömmliche Polarität männlich/aktiv- weiblich/passiv durch den Satz weiblich= Sein ergänzen. Um diese Verwurzelung des Weiblichen im Sein beneidet der Mann die Frau, wobei er manchmal den Irrtum begeht, das überwiegen des weiblichen Elements bei der Frau als selbstverständlich zu postulieren. Wenn man Winnicotts Einsichten ernst nimmt, versteht man leichter, warum die Krise der männlichen Identität so spontan die Form einer Sehnsucht nach dem "verlorenen" weiblichen Pol der eigenen Bisexualität annimmt.

Im Jahre 1903 erschienen im deutschen Sprachraum zwei Bücher, die beide zu den berühmtesten Zeugnissen der männlichen Identitätskrise gehören: Die Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken von Daniel Paul Schreber und Geschlecht und Charakter von Otto Weininger. Schrebers Maskulinität brach zusammen, überirdische Stimmen und Strahlen durchdrangen ihn, er wurde zu einem weiblichen Wesen und überzeugte sich bald von der prophetischen Bedeutung seiner Erfahrungen: seine Entmannung bereite die Wiedergeburt einer neuen Menschheit vor. Otto Weininger ging von dem verwirrenden Befund des radikalen Durcheinander von männlich und weiblich, von "M" und ,W", in jedem Menschen aus. Diese Bisexualisierung der modernen Kultur wurde aber für Weininger zum himmelschreienden Skandal, als er festzustellen meinte, daß unter dem Deckmantel der Bisexualität das weibliche Prinzip allein an Boden gewinne, während das männliche Prinzip in völliger Dekadenz begriffen sei. So wurde Geschlecht und Charakter zur Kriegserklärung gegen alles Weibliche, was er in sich oder in der zeitgenössischen Kultur erblickte.

"Nunmehr wurde mir unzweifelhaft bewußt, daß die Weltordnung die Entmannung, mochte sie mir persönlich zusagen oder nicht, gebieterisch verlange und daß mir daher aus Vernunftgründen gar nichts Anderes übrig bleibe, als mich mit dem Gedanken der Verwandlung in ein Weib zu befreunden ( ... ) Ich habe seitdem die Pflege der Weiblichkeit auf meine Fahne geschrieben", verkündete Schreber . ln seiner Umwelt nahm er nur noch .,flüchtig hingemachte Männer" wahr, Krankenpfleger, Wächter, Ärzte, alle Vertreter einer verkrüppelten Virilität. Schrebers Verlangen wird im Lichte von Winnicotts Ausführungen verständlicher. Durch seine Verwandlung in ein weibliches Wesen - d.h. durch die Freisetzung des verdrängten weiblichen Elements in seiner bisexuellen Psyche - suchte er die Identifikation mit der Mutter, die Verschmelzung mit der mütterlichen Brust, um zur Neubildung einer echten, lebensfähigen Identität zu gelangen- jenseits von allen .,flüchtig hingemachten" Männlichkeitsmustern seiner bürgerlichen Kultur. Der Fall Schreber macht u.a. klar, daß in jedem Knaben und in jedem Mann das Gefühl der Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht eine viel tiefere Sehnsucht zur Verschmelzung mit dem mütterlichen Element verdeckt. Gerade diese Verschmelzungsphantasie hält die Männer in ihrem Banne; als Verlockung oder als Schreckbild.
Weiningers Geschlecht und Charakter kondensiert und potenziert eine alte abendländische Tradition der Misogynie, von der altgriechischen Philosophie und den Kirchenvätern bis zu Schopenhauer und Strindberg. Doch spricht Geschlecht und Charakter nicht ebensoviel vom Mann wie vom .,Weib"? Von Männerängsten ebensoviel wie von der Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts? Weiningers Antifeminismus verrät eine akute Krise der männlichen Identität, die sein Selbstmord schließlich auf pathetische Weise veranschaulichte. Geschlecht und Charakter ist ein Jammerschrei und ein Eingeständnis der Schwäche. Weininger haßt die Frau und das Weibliche nur deshalb, weil er beides fürchtet, bzw. an einer verdrängten Sehnsucht zur Rückkehr in den mütterlichen Schoß leidet. Er verkündet die Gesetze des Patriarchats im Augenblick, in dem er den Siegeszug des Mutterrechts in der Moderne zu erleben wähnt. Schließlich versteigt er sich in das Ideal der Genialität, das sich als widernatürlich und tödlich erweist. ln einem Nachruf auf Otto Weininger schrieb August Strindberg: .. Dies zynische Leben war ihm zu zynisch" s. ln der Tat richtet sich Geschlecht und Charakter gegen alle Kompromisse der bürgerlichen Moral. Weininger denkt den Kantschen Gegensatz zwischen Kultur und Natur, zwischen kategorischem Imperativ und Lustprinzip zu Ende, d.h. er steigert das Kantsche Streben nach Engelhaftigkeit bis ins Absurde.

Beide, Schreber und Weininger, zeugen von dem (wahrscheinlich „typisch männlichen" ... ) Gefühl, daß es tausendmal leichter sei, ein .. Weib" zu sein, als ein Mann. Ein weibliches Schicksal erleben, das bedeutet für Weininger ein widerstandsloses Sich- Fügen in die Gewalt der Natur, des Fleisches, der Triebe, der Passivität, des Vergessens, des geistigen Schlummers und des Weltwillens. Ein Mann zu werden, scheint im Gegenteil eine geradezu heldenhafte und schmerzvolle Anstrengung vorauszusetzen, deren oberstes Gebot sich mit der Formel umschreiben ließe: .,Werde genial!". Die Frauen gehören zum stärkeren Geschlecht, sie bilden (Simone de Beauvoir zum Trotz!) das .,erste Geschlecht"; die Männlichkeit ist im Gegenteil sekundär, eine durch heroische Selbstüberwindung und unter vielen Triebopfern erkämpfte, immer bedrohte Identität; dies, paradox genug, wäre die Lehre von Geschlecht und Charakter. Also hätte die Bisexualität für jedes Geschlecht eine andere Bedeutung. Die Psychogenese zum Mann wäre eigentlich die via difficilior, während die Frau nichts Anderes zu leisten hätte, als das Verharren in ihrem passiven Nichtsein. Deshalb kann man Weiningers Buch mehr noch als einen Angriff gegen die moderne, verweiblichte Männlichkeit auffassen, denn als eine Attacke gegen die Frauen . .,Es könnte nicht wundern, wenn es manchen scheinen wollte, bei dem Ganzen der bisherigen Untersuchung seien ,die Männer' allzugut davongekommen ( ... ) Diese Beschuldigung wäre ungerechtfertigt. Es kommt mir nicht in den Sinn, die Männer zu idealisieren ( ... ) Es handelt sich um die besseren Möglichkeiten, die in jedem Manne sind ( ... ) Es gibt, wie schon öfter hervorgehoben, Männer, die zu Weibern geworden, oder Weiber geblieben sind" , bemerkt Otto Weininger.

Die Krise der Männlichkeit in der Moderne: dieses Thema hat die Wiener Literatur der Jahrhundertwende ganz besonders artikuliert . Ein hervorragendes Zeugnis dieser männlichen Identitätskrise gibt z.B. der Fragment gebliebene Roman Andreas von Hugo von Hofmannsthal. Die Titelfigur der Erzählung hat eine schwere psychische Erkrankung durchgemacht: "Grund, ihn auf Reise zu schicken: schwierige, schleppende Rekonvaleszenz nach einer seelischen Krise, Spuren von Anhedonia, von Verlust des Wertgefühls, Verwirrung der Gefühle" . Andreas ist in zwei Hälften gespalten: "er ist maßlos, einerseits nach dem Sinnlichen, andererseits nach dem Idealen" . Diese innere Spaltung projiziert er auf die Frau, die ihn in Venedig fasziniert: "Die Dame (Maria) und die Cocotte (Mariquita) sind beide ( ... ) Spaltungen ein und derselben Person, die gegenseitig trucs spielen" . Der geniale Mentor, den er in Venedig kennenlernt, der Malteser Sacramozo, entpuppt sich auch als Figur des erotischen Versagens: "Der völlige Zusammenbruch des Mannes von  Jahren" ; "der Malteser gesteht ihm, er habe nie eine Frau berührt, Andreas erwidert das Geständnis. Malteser beglückwünscht ihn" . Viele haben sich für Andreas ein happy end als die eigentliche Perspektive Hofmannsthals vorgestellt. Nach den Irrungen und Wirrungen seiner venezianischen education sentimentale sollte Andreas innerlich versöhnt und mit der Geliebten vereinigt nach Wien zurückkehren. Doch gibt es Anhaltspunkte für eine viel weniger optimistische Interpretation. Eine Aufzeichnung Hofmannsthals lautet: "Resultat des venezianischen Aufenthalts: er fühlt mit Schaudern, daß er in die eingeschränkte Wiener Existenz gar nicht zurück kann, er ist ihr entwachsen. Aber der gewonnene Zustand beängstigt ihn mehr als er ihn erfreut" . Hofmannsthals Roman - vielleicht gerade deshalb als Fragment geblieben - berichtet von der hoffnungslosen Verwirrung der Gefühle in der Moderne. Aus der Krise der Männlichkeit ergibt sich für beide Geschlechter die Unmöglichkeit jeder Beziehung.

In Elektra hat Hofmannsthal den Zusammenbruch aller erotischen Utopien dargestellt. Der Ausgangspunkt für die blutigen Katastrophen im Hause Agamemnons ist die Abdankung der Männer, alle zu willensschwach und in schändliche Intrigen verstrickt. Der letzte Mann im Stück, Orestes, ist an der Seite seiner Schwester Elektra so wenig überzeugend, daß Hofmannsthals griechisches Drama zum reinen Frauenstück wird. "über die ,Eiektra' hat (Maximilian Harden) tatsächlich das einzige sehr Treffende gesagt, das ich irgend gelesen hätte: nämlich daß sie ein schöneres Stück und reines Kunstwerk wäre, wenn der Orest gar nicht vorkäme" . Doch bedeutet der Untergang des Vaterrechts in dieser Bühnenweit keine Erlösung. Das von Klytämnestra ausgeübte Mutterrecht ist zur Schreckensherrschaft ausgeartet. Elektra steht allein in dieser verkehrten Weit und muß mit dem Wiederaufbau der menschlichen Kultur von Grund auf anfangen, ja sie muß Vater und Mutter  in einem sein: "Sie ist der Vater (dieser ist nur in ihr), sie ist die Mutter (mehr als diese es ist), sie ist das ganze Haus".

Rosa Mayreders Buch Zur Kritik der Weiblichkeit zog alle Folgen aus der männlichen Identitätskrise, in der ich - und darin knüpfe ich nur an den Befund Rosa Mayreders an - eine auffällige Charakteristik der Moderne, insbesondere der Wiener Moderne erblicke. sie ging so weit, die Zeigenössische Frauenbewegung im Gegensatz zur üblichen Meinung nicht mehr als bloße Emanzipationsbestrebung der unterdrückten Frauen im Kampf gegen die maskuline Vorherrschaft zu verstehen, sondern aus den Veränderungen herzuleiten, die seit einigen Jahrzehnten auf der Seite der Männer aufgetreten seien. "Niedergang, unaufhaltsamer Niedergang! Verträgt sich denn die Lebensweise, welche die Männer der geistigen Berufe führen, überhaupt noch mit irgend einem der Instinkte, durch die sich die primitive Männlichkeit auszeichnet? Das Bureau, das Kontor, die Kanzlei, das Atelier, - lauter Särge der Männlichkeit. Ihre monumentale Grabstätte aber ist die Großstadt selbst" 3. Das Fortschreiten der Kultur hat alle traditionellen Rollenvorstellungen der Männlichkeit in Frage gestellt, so daß "das Missverhältnis zwischen den modernen Lebensbedingungen und den herrschenden Normen bei dem männlichen Geschlecht noch größer als bei dem weiblichen ist" . Klischees wie Aktivität, Aggressivität, Unternehmergeist, Willenskraft als Merkmale der Virilität wirken als archaisch und überholt, denn "Kultur und Bildung nähern den Mann dem Weibe, verweiblichen ihn" . Rosa Mayreder prägt sogar die provokative Formel: "Je mehr die Kultur wächst und sich verfeinert, desto stärker werden ihre antivirilen Einflüsse" .
Ein Grundproblem der abendländischen Kultur und zugleich der Beziehungen zwischen den Geschlechtern erblickt Rosa Mayreder in der Tatsache, daß einerseits "die Gegenwart einen technisch-intellektuellen und einen ästhetisch-kontemplativen Charakter hat; außerhalb dieser Gebiete ist das Leben in vollem Verfall begriffen - am stärksten auf jenen, welche die Domäne der primitiven oder kriegerischen Männlichkeit sind" . Die moderne Kriegsführung ist eine mit modernster Technik erledigte Metzgerei und Zerstörungsarbeit, die dem einzelnen "Helden" keinen Platz mehr einräumt und von jedem nur noch ein Maximum an Passivität fordert. Sonst gelten die herkömmlichen männlichen Tugenden meistens als Karikaturen der Virilität, die in der geordneten Wirklichkeit als deplaciert wirken: "Was hat ein Künstler, ein Gelehrter, ein Beamter, ein Lehrer mit den Eigenschaften zu tun, die zum Krieg tauglich machen?" . Andere, nicht europäische Kulturen stellen den Priester oder den Weisen an die Spitze ihrer Wertskala. Die moderne Kultur Europas hält an tradierten Vorstellungen weiterhin fest; selbst vollkommen vergeistigte Männer müssen mit unbewältigten Männlichkeitsphantasien fertigwerden, bzw. können es nicht. "Der moderne Mann leidet an seiner Intellektualität wie an einer Krankheit" ; "Als unlösbare Dissonanz besteht in der männlichen Psyche die alte Feindschaft zwischen Geist und Geschlecht fort".

Dieser Gedankengang erinnert an Freuds Ausführungen in Das Unbehagen in der Kultur. Doch besteht Rosa Mayreders Originalität u.a. auch darin, daß sie dieses "Unbehagen" klarer und dezidierter als Freud geschlechtsspezifisch interpretiert. - Die "Dissonanz" in seiner Psyche versucht der Mann häufiger durch das zynische Ausleben oder die Unterdrückung seiner Sexualität zu überwinden, als durch eine Versöhnung der beiden "feindlichen" Interessensphären, meint Rosa Mayreder. Diese Alternative: Zynismus oder Askese, unterminiert nicht nur das psychische Gleichgewicht des Mannes, der am Ende nur noch zwischen Sadismus und Masochismus schwankt, sondern sie verbaut auch den Weg zu einem konstruktiven Verhältnis der Geschlechter. Solange der Mann den Geschlechtstrieb als Gefahr innerhalb seiner Psyche auffaßt, ist er ständig versucht, diese Angst auf Frauenphantasien zu projizieren. So wird er sich vor der femme fatale fürchten und sich nach der mütterlichen, sexuell ungefährlichen Madonna sehnen.

Aus diesen Einsichten, die Rosa Mayreder als feinfühlige Beobachterin ihrer Epoche nicht zuletzt aus zeitgenössischen Symptomerscheinungen wie Weiningers Geschlecht und Charakter gewonnen hat, zieht sie in Bezug auf die Frauenbewegung unkonventionelle Schlüsse. Die Frauenbewegung nur als Eroberungsfeldzug gegen männliche Positionen oder als Revolte gegen den Stärkeren darzustellen, kommt ihr als illusorisch vor. Denn die moderne Weit leidet mehr an einem ethischen Vakuum als an einem übergewicht der männlichen Werte. Das Debakel der Männerwelt stellt die Frauen vor eine unerhörte Herausforderung: sie müssen nämlich aktiv werden, wo die Männer offenkundig überfordert sind. "Und da die Männer Frauen geworden sind, bleibt den Frauen etwas anderes, als das Feld zu erobern, das die Männer verließen?" . Die Frauenbewegung erhält aus dieser Perspektive eine erweiterte Bedeutung. Sie soll nicht nur Ungerechtigkeiten wiedergutmachen und Gleichstellung durchsetzen; sie soll überhaupt eine umfassende Wiederaufbauarbeit an der ganzen Kultur leisten, die von den Männern als Trümmerfeld hinterlassen worden ist.

Eines der Probleme, die die Frau lösen soll -falls sie an einer kreativen Kommunikation zwischen den Geschlechtern weiterhin interessiert ist - ist die Neugestaltung einer Partnerschaft zwischen Mann und Frau. ln diesem Punkt kritisiert Rosa Mayreder die Position ihrer Freundin und Mitstreiterin Lou Andreas-Salome, die sie im Winter / kennengelernt hatte. Lou Andreas-Salome neigte nämlich dazu, den weiblichen Charakter als selbstgenügsam, souverän, und dem männlichen überlegen darzustellen. "Ein auf sich beruhendes und in sich vollendetes Wesen, das im Vergleich zum männlichen Wesen wie ein Stück uralter, im ältesten Sinn vornehmster Aristokratie auf eigenem Schloß und Heimatbesitz erscheint" . Diese Vorstellung verwirft Rosa Mayreder als "den extremen Typus der egoistisch-frigiden Mk Weiblichkeit (und als) unersättliche Herrschsucht" 3. ln paradoxer Weise berührten sich Lou Andreas- Salomes Weiblichkeitsbilder mit bestimmten männlichen Frauenphantasien. Als Beispiel für eine solche Konvergenz möchte ich auf das ambivalente Interesse hinweisen, das Lou Andreas-Salome für Otto Weininger immer spürte. Ausgehend von einer Diskussion der Weiningerschen Thesen schrieb Lou Andreas-Salome in ihrem Tagebuch ln der Schule bei Freud: "Die Männer wären das schwache Geschlecht, betrachtet vom kulturlos narzißtischen Standpunkt des Weibes, das die letzten Intuitionen des Geistes vielleicht nicht erreicht, jedoch dafür als solches aus Lebens- und Geistesintuition heraus sein Wesen hat. Die Frau als das Glückstier" . Dieser Typus der narzißtischen Frau bildet das Pendant zum dekadenten masochistisch-sadistischen Typus der modernen Männlichkeit. Eine solche Frau, bemerkt Rosa Mayreder, verbindet die Lust am Sichunterwerfen mit dem Bedürfnis nach überlegenheit und Macht. Sie ist selbst ebenso unfähig zur Neugestaltung einer kreativen Beziehung zwischen Mann und Frau wie ihr vom Männlichkeitswahn beherrschter Partner.

Um die für den Debut de siecle typische Situation des "Geschlechterkampfes" zu überwinden, appellierte Rosa Mayreder an eine neue "Genialität der Erotik", die ein besseres wechselseitiges Verständnis der Geschlechter ermöglichen würde. "Das erotische Genie", schrieb sie, "umfaßt das Wesen des anderen Geschlechts mit intuitivem Verständnis und  vermag sich ihm ganz zu assimilieren" . Mit dieser Idee belebte sie den Mythos des Androgynen wieder. Die Antithese und zugleich die Parallele zu Otto Weiningers Genialitätstheorie sind evident. Am Beginn ihres Essays Zur Kritik der Weiblichkeit bemühte sich Rosa Mayreder um eine gerechte Würdigung von Geschlecht und Charakter. Sie vermied dabei, in die zürnende und anklagende Rhetorik zu verfallen, in die sich fast alle damaligen Rezensentinnen ergingen (die Reaktion von Grete Meisel-Hheß in der Broschüre Weiberhass und Weiberverachtung von  ist ein gutes Beispiel solcher berechtigten Entrüstung, die unversehens in die Falle der Weiningerschen Provokation geht).

In der von Weininger hervorgehobenen Tatsache der psychischen Bisexualität sah Rosa Mayreder einen Ausweg aus der Aporie des feministischen Diskurses ihrer Zeit. Einige Frauen, bemerkte sie, "legen alles Gewicht auf die gemeinsamen Gebiete und fordern in jedem Falle eine von den Geschlechtsnormen unabhängige Berücksichtigung der Eigenart" , während andere "eine fundamentale Verschiedenheit der Geschlechter anerkennen, indem (sie) die Mutterschaft zum entscheidenden Faktor erheben, um von hier aus die Stellung der Frau in der Kultur der Zukunft zu begrenzen" . Das Verdienst Weiningers habe gerade darin bestanden, die ursprüngliche und im Unbewußten weiter enthaltene Einheit der Geschlechter zu betonen, argumentierte Rosa Mayreder, wobei sie gleich hinzufügte: "Sobald Weininger die biologisch-psychologische Betrachtungsweise aufgibt, die er im ersten Teil seines Werkes verfolgt, und sich der psychologisch-philosophischen bedient, ( ... ) annulliert er die Voraussetzung des ersten (Teils) gänzlich" s. Diese Einschätzung von Otto Weiningers Buch war wahrscheinlich etwas zu wohlwollend. Denn die Keime der antifeministischen und misogynen Metaphysik des zweiten Teils von Geschlecht und Charakter sind im ersten Teil schon enthalten.

Nichtdestoweniger faszinierend bleibt dieser Versuch von Rosa Mayreder, im Anschluß an Nietzsches Umwertung der Werte und anthropologischen Transformismus, die Utopie einer neuen, von der "Tyrannei der Norm" befreiten Menschheit zu entwerfen. Die Postmoderne wäre nach Rosa Mayreder - jenseits der Sackgassen einer Moderne a Ia Strindberg oder Weiniger - ein kreatives Spiel der sexuellen Identitäten im Zeichen der "sexuellen Zwischenstufen", wie sie Magnus Hirschfeld nannte, das den archaischen Gegensatz von Mann und Weib aufheben und eine androgyne Kultur der Austauschbarkeit der sexuellen Rollen, der erleichterten Verständigung zwischen Männern und Frauen begründen würde. Das Thema des Androgynen durchzieht die Philosophie und Literatur seit der Frühromantik (man denke an Lucinde von Friedrich Schlegel) und seit Nietzsche; man findet es in verschiedenen Varianten bei Rilke, George, oder Musil. Auch bei Lou Andreas- Salome findet man diese Utopie angedeutet. Doch überrascht es nicht, daß. der androgyne Typus nach Lou Andreas-Salome eminent weiblich ist. .. "Dasjenige, was den festesten Zusammenschluss von Männlichem und Weiblichem enthält, ist Mütterlichkeit, indem das Weib empfängt und gebiert, aber auch zeugt und das Geborene schützt und beherrscht" . Bei Rosa Mayreder ist der neue androgyne Mensch weder weiblich noch männlich, sondern wirklich synthetisch. "Die Gradualität, welche hier gemeint ist, hat nicht (wie bei Weininger) in der Weise eine Annäherung des Männlichen an das Weibliche, des Weiblichen an das Männliche zur Voraussetzung, daß der Mann durch sie weniger Mann, das Weib weniger Weib wird ( ... ) Synthetische Menschen überwinden die Bande des Geschlechtes ohne Verneinung“.

Diese Utopie von Rosa Mayreder hat in den heutigen Debatten über die postmoderne Lebensform eine erstaunliche Aktualität wiedergewonnen. Sie verdankt ihre Kohärenz und überzeugungskraft dem großem Scharfblick, mit dem Rosa Mayreder einerseits die unerhört akute Identitätskrise der Männer in der Moderne diagnostizierte und andererseits bestimmte Schwächen im theoretischen Diskurs der Frauenbewegung ihrer Zeit aufdeckte.

Quelle:
http://www.iwk.ac.at/wp-content/uploads/2014/07/Mitteilungen_1989_1_rosa_mayreder.pdf