Die vollkommene Beherrschung des ganzen Menschen durch das Selbstbewusstsein

Denn zu dieser [okkulten] Ausbildung muss die vollkommene Beherrschung des ganzen Menschen durch das Selbstbewusstsein angestrebt werden, so dass bei ihm Leib, Seele und Geist in einer vollkommenen Harmonie sind. Die Verrichtungen des Leibes, die Neigungen und Leidenschaften der Seele, die Gedanken und Ideen des Geistes müssen in einen vollkommenen Einklang miteinander gebracht werden.

Der Leib muss so veredelt und geläutert werden, dass seine Organe zu nichts drängen, was nicht im Dienste der Seele und des Geistes geschieht. Die Seele soll durch den Leib nicht zu Begierden und Leidenschaften gedrängt werden, die einem reinen und edlen Denken widersprechen.

Der Geist aber soll nicht wie ein Sklavenhalter mit seinen Pflichtgeboten und Gesetzen über die Seele herrschen müssen; sondern diese soll aus eigener freier Neigung den Pflichten und Geboten folgen. Nicht wie etwas, dem er sich widerwillig fügt, soll die Pflicht über dem Geheimschüler schweben, sondern wie etwas, das er vollführt, weil er es liebt.

Eine freie Seele, die im Gleichgewichte zwischen Sinnlichkeit und Geistigkeit steht, muss der Geheimschüler entwickeln. Er muss es dahin bringen, dass er sich seiner Sinnlichkeit überlassen darf, weil diese so geläutert ist, dass sie die Macht verloren hat, ihn zu sich herabzuziehen.

Er soll es nicht mehr nötig haben, seine Leidenschaften zu zügeln, weil diese von selbst dem Rechten folgen. Solange der Mensch es nötig hat, sich zu kasteien, kann er nicht Geheimschüler auf einer gewissen Stufe sein.

Eine Tugend, zu der man sich erst zwingen muss, ist für die Geheimschülerschaft noch wertlos. Solange man eine Begierde noch hat, stört diese die Schülerschaft, auch wenn man sich bemüht, ihr nicht zu willfahren. Und es ist einerlei, ob diese Begierde mehr dem Leibe oder mehr der Seele angehört.

Wenn jemand zum Beispiel ein bestimmtes Reizmittel vermeidet, um durch die Entziehung des Genusses sich zu läutern, so hilft ihm dies nur dann, wenn sein Leib durch diese Enthaltung keine Beschwerden erleidet. Ist letzteres der Fall, so zeigt es, dass der Leib das Reizmittel begehrt, und die Enthaltung ist wertlos.

In diesem Falle kann es eben durchaus sein, dass der Mensch zunächst auf das angestrebte Ziel verzichten muss und warten, bis günstigere sinnliche Verhältnisse - vielleicht erst in einem anderen Leben - fuür ihn vorliegen.

Ein vernünftiger Verzicht ist in einer gewissen Lage eine viel größere Errungenschaft als das Erstreben einer Sache, die unter gegebenen Verhältnissen eben nicht zu erreichen ist. Ja, es fördert solch ein vernünftiger Verzicht die Entwicklung mehr als das Entgegengesetzte.

Aus WIE ERLANGT MAN ERKENNTNISSE DER HÖHEREN WELTEN, Kapitel: Über einige Wirkungen der Geheimschulung, RUDOLF STEINER ONLINE ARCHIV, 4. Auflage 2010, http://anthroposophie.byu.edu