Stefan Zweig: Das typische Lebensziel des jüdischen Menschen

Im Allgemeinen wird angenommen, reich zu werden sei das eigentliche und typische Lebensziel des jüdischen Menschen. Nichts ist falscher. Reich zu werden bedeutet für ihn nur eine Zwischenstufe, ein Mittel zum wahren Zweck und keineswegs das innere Ziel.

Der eigentliche Wille des Juden, sein immanentes Ideal ist der Aufstieg ins Geistige, in eine höhere kulturelle Schicht. Schon im östlichen orthodoxen Judentum, wo sich die Schwächen ebenso wie die Vorzüge der ganzen Rasse intensiver abzeichnen, findet diese Suprematie des Willens zum Geistigen über das bloß Materielle plastischen Ausdrucks: der Fromme, der Bibelgelehrte gilt tausendmal mehr innerhalb der Gemeinde als der Reiche; selbst der Vermögendste wird seine Tochter lieber einem bettelarmen Geistesmenschen zur Gattin geben als einem Kaufmann.

Diese Überordnung des Geistigen geht bei den Juden einheitlich durch die Stände; auch der ärmste Hausiere, der seine Packen durch Wind und Wetter schleppt, wird versuchen, wenigstens einen Sohn unter den schwersten Opfern studieren zu lassen, und es wird als Ehrentitel für die ganze Familie betrachtet, jemanden in ihrer Mitte zu haben, der sichtbar im Geistigen gilt, einen Professor, einen Gelehrten, einen Musiker, als ob er durch seine Leistungen sie alle adelte.

Unbewusst sucht etwas in dem jüdischen Menschen, dem moralisch Dubiosen, dem Widrigen, Kleinlichen und Ungeistigen, das allem Handel, allem bloß Geschäftlichen anhaftet, zu entrinnen und sich in die reine, die geldlose Sphäre des Geistigen zu erheben, als wollte er - wagnerisch gesprochen - sich und seine ganze Rasse vom Fluch des Geldes erlösen.

Darum ist auch fast immer im Judentum der Drang nach Reichtum in zwei höchstens drei Generationen innerhalb einer Familie erschöpft, und gerade die mächtigsten Dynastien finden ihre Söhne unwillig, die Banken, die Fabriken die ausgebauten und warmen Geschäfte ihrer Väter zu übernehmen.

Es ist kein Zufall, dass ein Lord Rothschild Ornithologe, ein Warburg Kunsthistoriker, ein Cassirer Philosoph, ein Sassoon Dichter wurde; sie alle gehorchten dem gleichen, unbewussten Trieb, sich von dem frei zu machen, was das Judentum eng gemacht hat, vom bloßen kalten Geldverdienen, und vielleicht drückt sich darin sogar die geheime Sehnsucht aus, durch Flucht ins Geistige sich aus dem bloß Jüdischen ins allgemein Menschliche aufzulösen.

Eine „gute“ Familie meint also mehr als das bloße Gesellschaftliche, das sie selbst mit dieser Bezeichnung sich zubilligt; sie meint ein Judentum, das sich von allen Defekten und Engheiten und Kleinlichkeiten, die das Ghetto ihm aufgezwungen, durch Anpassung an eine andere Kultur und womöglich eine universale Kultur befreit hat oder zu befreien beginnt.

Dass diese Flucht ins Geistige durch eine unproportionale Überfüllung der intellektuellen Berufe dem Judentum dann ebenso verhängnisvoll geworden ist wie vordem seine Einschränkung ins Materielle, gehört freilich zu den ewigen Paradoxien des jüdischen Schicksals.

Stefan Zweig um 1942 in Die Welt von gestern. (In dem oberen Text bezieht er sich auf das Leben in Wien vor 1900.)