Mutige Menschen machen nicht mit

mit Infos von Prof. Dr. Rainer Rothfuß

Das Studium Generale in Tübingen richtet sich an Hörer aller Fakultäten und Gästen. Es öffnet die Elfenbeintürme für die Bevölkerung. Prof. Dr. Rainer Rothfuß organisierte in dessen Rahmen Vorträge, deren Redner von seinen Kollegen nicht immer herzlich empfangen wurden. Im Falle von Dr. Daniele Ganser, einem schweizer Historiker, der zum Thema 9/11 sprach, empörten sich einzelne Stimmen, Personen wie Ganser dürfe man kein wissenschaftliches Podium geben. Das waren einzelne Stimmen aus dem Kollegium. Es war nicht die Leitung der Universität Tübingen. Die stand hinter Rothfuß.

Rothfuß sieht es nüchtern. Wer Feindbilder untersuche, müsse sich ich auch mit dem Opfer des Feinbildes beschäftigen, diese Personen einladen, sie zu Wort kommen lassen und ihnen ins Gesicht schauen. Schließlich gehe es um eine sachliche Auseinandersetzung mit einem Thema.

„Trotzdem, wenn man so etwas tut, den russischen Botschaft und Ganser einlädt, steht man plötzlich alleine da“, erzählt er. Aber mit der Zeit habe er gelernt, sein Gegenschießen zu drosseln. Das Verstehen, dass der Gegenüber in seinem Muster gefangen ist, ist gewachsen. Er habe Geduld entwickelt, Angriffe abzufedern. Natürlich könne er sich verteidigen, aber man dürfe nicht mit den gleichen Mitteln zurückschlagen. Besser wäre, firm zu seiner Sache zu stehen und sich nicht beirren zu lassen.

Lust auf Mündigkeit


Die Erfahrung der Vortragsreihe zeigt, das Publikum ist sehr wohl fähig zur Differenzierung. "Die Leute wollen herausgefordert sein, ein Gegenüber haben, woran man sich reiben kann. Die Fragen, die oft ausgespart werden, brennen auf den Nägeln." Es wurden viele Fragen gestellt. Leider, sagt Rothfuß, meinten Politik und Medienmacher noch zu oft, das man einfach diffamieren könne, aber nein, "der Bürger schaut hin" und will selbstverantwortlich mündig werden.

"Es kann nicht sein, dass wir über bestimmte Themen nicht forschen dürfen. Wobei dabei eine bestimmte Gruppe unter Generalverdacht gestellt wird. Islamischer Terror existiert, aber damit es nützlich wird, muss noch eins draufgesetzt werden. Anhand des 9/11 kann klar werden, wie Stimmungsmache funktioniert. Das ist nicht nur Geschichte. Das geschieht heute, zurzeit."

Sein Tipp lautet darum: "Glaubt nichts." Man solle versuchen, jede Hypothese zu falsifizieren. Erst wenn das scheitere, dürfe man der ersten Aussage glauben. Die Menschen bräuchten wieder mehr Selbstbewusstsein und Mut einfach mal zu sagen: "Glaub ich nicht, ich wart mal ab." Das könne Frieden schaffen.

Was die Feindbildgenese angeht, ist aktuell eine neue Taktik zu beobachten. "Gegen alle Russen zu sein, kommt nicht gut an. Das neue Feindbild ist Putin." Eine einzelne Person, obwohl Russland nicht nur aus Putin besteht. Wenn man jedoch das Feinbild entzaubere, löse sich jeglicher Grund für ein Handeln gegen den Feind auf. Es steht immer Konfliktlösung gegen Eskalation. 

Korrupte Forschung


Hat sich für ihn der Lehrbetrieb entzaubert, als der Konkurrenzgeist erkennbar wurde? Nein, sagt er, denn er wisse, Wissenschaft ist schon immer vernetzt mit der Politik. Auch etablierte Wissenschaftler müssten bestimmte Kreise bedienen, die Interessen haben. Heute seien vor allem die Drittmittelgeber die Richtungsvorgeber. Auch wissenschaftliche Erfolgskriterien definieren Professoren nicht selbst, sondern andere.

Ob man allerdings davon ausgehen könne, dass wissenschaftliche Einrichtungen benutzt werden, um Feinbilder zu produzieren, bezweifelt er. "Dem Einzelnen liegt das fern. Aber das System will sich selbst erhalten." So würden wir heute keine Menschen schaffen, die das System, das sie nährt, hinterfragen. Konfliktforschung und Feinbildforschung stechen deshalb per se in ein Wespennest.

Was ihn an der Universität besonders schockiert habe, seien Machtkämpfe um Positionen und die Beliebigkeit von Forschungsergebnissen. Häufig würden weltbildkonforme Ergebnisse reproduziert, die Annahmen nur bestätigen. Auch er habe schon Anfragen bekommen, mit einer Studie bereits bestehende Aussagen zu festigen. Diese Käuflichkeit sei schlimm und hänge oft mit der fehlenden Bereitschaft zusammen, bisherige Weltbilder dynamisch sein zu lassen und ehrlich dazulernen zu wollen.

Mehr Zeit zum Denken


Ein Problem sieht er auch im neuen Studiensystem: "Der Bachelor monetarisiert das Studium. Seine Währung sind Leistungspunkte. Dazu kommt, es gibt immer weniger Lehrpersonal. Alles, was getan werden muss, ist festgeschrieben, und wenn es keine Leistungspunkte gibt, wird es nicht gemacht. Und bei dem ganzen Stress fehlt der Freiraum zum Denken. Wo ist die Ruhe? Das hat einen Effekt auf die Gesellschaft. Die Denker, die heute produziert werden, sind nicht mehr innovativ genug. Wie brauchen Debattierclubs, die lehren, Dissens auszuhalten, ohne Diffamierung. Aber die Meinungspolizei ist bereits krass etabliert. Kontroverse Diskussionen werden in Deutschland kaum geführt. Das wiederum ist in den USA anders. Dort ist die Kontroverse höher ausgebildet."

Rothfuß vergleicht guten Journalismus mit der Leistung der Wissenschaft. Diese gehe zwar tiefer, weil sie mehr Zeit habe, aber beide sollten versuchen, neutral zu sein, Distanz zu wahren und ehrlich zu sein. "Wissenschaft und Journalismus, beide generieren und zirkulieren Wissen." Bei beiden sollte immer gelten: In dubio pro reo – Im Zweifel für den Angeklagten.

Frieden braucht mutige Menschen


Schlimm sei, dass man mancherorts vergessen zu haben scheint, dass das Gebot des Friedens gelte, bevor überstürzt gehandelt werde. "Die Welt ist groß. Es gibt viele Aufgaben, an vielen Orten." Aber sich an kleine Strohhalme klammern und seine Ideale verraten? Das hält er für keine gute Idee.

Sein persönliches Feinbild zeichnet er scharf: "Mein Feinbild ist Lüge, Bigotterie - sich mit falschen Begriffen schmücken, aber innerlich einer fremden Macht dienen und fehlender Mut." Man solle wenigstens zu den eigenen Interessen stehen und mit offenem Visier kämpfen.

Auf die Frage, ob bei Menschen mit Eitelkeit und Fallhöhe der Drang etwas zu verteidigen wächst, antwortet Rothfuß: "Das kommt auf die Grundhaltung an. Macht korrumpiert immer. Wenn man Macht hat, ist man versucht, sie zu nutzen. Darum ist es so besonders wichtig, dass man eine Ethik herausbildet." Die Abschaffung von Religionsunterricht ist keine Lösung, das dränge Werte aus der Gesellschaft heraus.

Zentral für sein Leben sind zwei Devisen: Frei im Denken. Frei im Glauben. Leider, sagt er, seien die aktuellen Kirchen nur ein mattes Abbild des Kerns des Christentums. 

Christliche Werte sind für ihn eindeutig. Sie würden dem Menschen zeigen, warum sie etwas tun, "nicht für sich, sondern für die Gesellschaft, und wenn sie das verstehen, und dann Macht bekommen, sind sie in der Lage, diese zu nutzen", denn Macht habe man nicht für sich, sondern im Sinne des Dienstes am Anderen bekommen. Diese Grundhaltung, meint er, fehle in unserer egofokussierten Gesellschaft, und Andersdenkende würden an den Rand gedrängt.

Ein Mann mit Mission


Rothfuß sieht sich als vom Anspruch getrieben, sein Leben nicht zu vergeuden. In seinem Werdegang kam es vor, dass er andere mit seiner Begeisterung genervt hat. Das sah er mitunter auch mal kritisch. Aber inzwischen erkennt er den Wert, mit einer Mission auch mal eine Party aufzumischen. Am Ende entstünden dabei immer neue Gedanken.

Ob der Kampf gegen Ignoranz auch seiner sei. Ja, aber sie zu erkennen, erzeuge Wut. Diese dürfe man nicht in Gewalt münden lassen, sondern durch das Auftischen von Thesen minimieren. "Ich suche den Streit, wo ich das Gefühl habe, da könnte ein Umdenken entstehen."

Als großen Erfahrungswert nennt er Bescheidenheit im Wissen: "Ich habe gelernt, dass ich mir nie sicher sein darf, alles verstanden zu haben." Ein Forscher aus Ecuador hatte ihm eine neue Interpretation des Clash of Civilizations gezeigt. Für ihn sei dieses Kulturmodell nur ein Trick, um zu kaschieren, dass der Norden gegen den Süden kämpfe. Wie dem auch sei, das zeige ihm klar: "Ich weiß nie alles. Ich muss immer dazu lernen."

Woher denn die Fähigkeit zu Hinterfragen käme. Er meint, sie käme aus dem Familienumfeld. Zu Hause sei es um das Betrachten gegangen, um den Versuch zu verstehen, um Analysen und die Frage, muss ich das akzeptieren, was da geschieht?

Wie es weitergeht


Ein wenig Hoffnung kann Rothfuß uns machen. Er meint, eine Generalmobilmachung wie 1914, als das Bürgertum versagte und ganze Familienlinien ausgelöscht wurden, wäre heute nicht mehr möglich. "Heute wäre das anders. Das kollektive Bewusstsein lässt sich nicht mehr gegen einen Medienfeind mobilisieren."

Aber eine Gefahr ist auch die Indifferenz, weil das reale Leben der anderen so weit weg sei. Er würde gerne Studenten sehen, die für den Frieden brennen. "Wer sagt noch öffentlich, ich möchte diese Leute, die angeblich meine Feinde sind, kennenlernen. Wer sagt laut, ich möchte Frieden. Wer geht dafür auf die Straße?"