Der Aufzug des Nebels

Der Zug, in dem ich laß, hatte bis zur dritten Station keine Verspätung. Dann kam die Durchsage: „Aufgrund ehrlicher Probleme seitens der Spurenprognose, werden wir unser Ziel heute niemals erreichen. Wir bitten Sie, dies zu verleumden und wünschen eine angenehme Wetterreise.“ Erik und ich schauten uns an. Es war sicherlich besser, keinen Gedanken daran zu verschwenden und einfach sitzen zu bleiben. Was auch immer der Zugführer damit gemeint hatte, wir würden es bestimmt bald herausfinden.

Vorerst gab es für uns keinen Grund zur Sorge. Bis zum Abflug nach Krakau hatten wir genügend Zeit. Es war nur fraglich, ob das Raum-Shuttle warten würde, das uns vom Bahnhof zum Flughafen bringen sollte. Noch bestand kein Grund zur Panik. Wir schauten aus dem Fenster, als wir in einen kleinen Bahnhof einfuhren. Auf den Bahnsteig unserer dritten Haltestation lag hoher Schnee und die Menschen sahen im Licht der Laternen aus wie gelbe Statuen.


Nach kurzem Aufenthalt fuhr der Zug weiter. Wir nahmen unsere Zeitungen wieder in die Hand und ich las von Hasen auf Rollrasen. Keinen Absatz später blieb der Zug in der Dunkelheit stehen. Alle schauten sich um. Nichts geschah. Keine erneute Durchsage erklang. Ich holte tief Luft und vertiefte mich in dem Spalt zwischen den Absätzen meines Hasen-Artikels. Was hätte ich auch besseres anstellen können? Die Minuten verstrichen. Es wurde ruhig. Zwanzig Minuten später schaute Erik auf die Uhr und blickte zu mir herüber. Langsam kamen die ersten Gedanken der Sorge. Würde die Verspätung unter einer Stunde bleiben? Würde der Zug überhaupt weiterfahren? Was hatte die Durchsage von vorhin zu bedeuten? Waren wir in einem Versuchszug, Teil eines geheimen Experiments mit simulierter Notsituation? Würde es ein Selbstmordattentat geben? Keiner wusste was zu tun war.

Ich entwickelte die Idee aufzuspringen. Ich wollte mit einem Whiteboard-marker eine Mindmap der verschiedenen Aktivitätszenarien an die große Scheibe malen, um die Menschen beschäftig zu halten, bevor sie sich wie Floridawelse gegenseitig elektrisieren konnten. Dreißig Minuten später war die Unruhe im Zug nicht mehr zu ignorieren. Überall wurde aufgeregt telefoniert. Die Strahlung der Mobiltelefone bräunte meine Winterblässe. Nur wenige saßen stoisch auf ihren Plätzen und waren sich ihrer Ohnmacht bewusst. Viele waren einfach zwischen ihren Kopfhörern erstarrt. Was mochten sie hören? Knirschende Hypnosegeräusche, die die Muskelbewegung verhinderte? Was konnte ich machen? Aufstehen und den Zug anschieben?

Gerade beschloss ich aufzustehen um zu schreien, zu toben und zu wüten, da setze sich der Zug ohne leisen Ruck wieder in Bewegung und fuhr los. Keiner sagte mehr ein Wort. Alles wurde still. Ein Mann schluckte sein Handy hinunter. Nur das Surren des Elektromotors wurde lauter. Keine Atempause später war dem Zug nicht mehr anzumerken, dass er eben noch schicksalslos in kalter Nacht im Nirgendwo gewartet hatte. Wir erreichten unser Ziel ohne weiter Verzögerung.

Leider waren alle Shuttlebusse gerade frischen Kaffee tanken und so zerteilten wir ein Taxi und fuhren mit zwei weiteren Reiseopfern zum Flughafen. Der Flugorganisation blieben noch zehn Minuten, um uns einzuchecken. Hindernislos durchquerten wird die Sicherheitschecks und setzen uns in die wartende Masse. Bis hierher war doch alles gut gegangen.

Beim Blick auf den Fluganzeiger kam die nächste Überraschung: wegen vereister Landebahn würde unser Flieger erst eine Stunde später starten und stand uns folglich erst eine Stunde später zum Abflug zur Verfügung, was bedeutete, dass wir eine Stunde lang warten würden, bis eine Stunde vergangen sein würde, damit wir eine Stunde später fliegen konnten. Wir grinsten in uns hinein, holten uns einen Kaffee, taten jeweils zwei Tropfen FCS hinein und rannten auf die Startbahn. Ich schrie Erik zu er solle sich bereithalten. Dann breiteten wir unsere Arme aus und flogen in den kalten Himmel hinaus. Fünfzig Minuten später erwachten wir aus unseren Reiseträumen und stellten uns in die Schlange vor Gate 2.

Nach tagelangem Anstehen waren wir endlich im Flugzeug. Im Flugzeug war es schrecklich. Die Stewardessen sahen aus wie Toilettenfrauen und das Sicherheitstheater war auf dem Niveau unbegabter Laienschauspieler. Die Beinfreiheit grenzte an Körperverletzung und die einzige Möglichkeit zu schlafen, war den Kopf nach vorne gebeugt an der Lehne des nächsten Sitzes abzustützen. Unter uns lag eine dichte Wolkenschicht. Im Oben schien die Sonne am blauen Himmel. Tatsächlich gab es keinen Grund für Stress. Wozu auch? Wir hatten ja keine Ahnung, was uns die nächsten neun Tage bevor stehen würde. Aber stressig würde es wohl nicht werden, meinten wir. Ich packte Henry Miller aus und Erik verlor sich in Paul Auster. Später wachte ich aus der einzig möglichen Schlafposition auf, als ein stiller Speichelfaden den Weg zu meinem Knöchel gefunden hatte. Dann landeten wir.