Mystischer Sex

Tatsache ist, dass Menschen, die eine tiefe Erfahrung gemacht haben, sich in einer allumfassenden Liebe auflösen. Dort gibt es weder ein "Ich liebe dich" noch ein "Ich liebe Gott", sondern die Liebe nivelliert alle Ich-Du-Unterscheidungen. Sie durchdringt alles. Will man aber diese Liebe in Worte fassen, so geschieht es häufig, vor allem im Christentum, dass sie in einer Gottesliebe personalisiert wird; oder in der Liebe zu Jesus. Damit aber bekommt die Liebe ein Gegenüber; und in dem Augenblick, in dem sie ein Gegenüber bekommt, kann sie einen erotischen Charakter annehmen.

Aber liegt das nicht in der Natur der Sache? Zu einer Liebesbeziehung gehören doch unweigerlich zwei? 

Ja, aber das Eigentliche der Liebe besteht eben darin, dass diese zwei ihr jeweiliges Ich in einer höheren Einheit transzendieren. Nicht auf die Zweiheit der Liebenden, nicht auf ihren Dialog kommt es an. Das Wesentliche ist der Liebesakt selbst. Rumi hat das sehr genau gesehen. Er schreibt in einem Gedicht: "Ich bin bei dir, und du willst Briefe lesen. - Das ist doch nicht der wahren Liebe Wesen". Er will damit sagen: Ich bin doch da, und obwohl ich da bin, schreibst du mir Liebesbriefe. Man könnte weiterfahren und ergänzen: Ich bin doch da, und obwohl ich da bin liest du mir aus deinem Gebetbuch vor. Kurz: Die Gegenwart des Geliebten wird gar nicht wahrgenommen. Vor der Vereinigung schreckt man zurück. In der mystischen Liebe ist das anders. In ihr gibt es nur die Einheit. Ich frage mich, warum es soviel Angst vor der Einheit gibt.

Willigis JÄGER: Die Welle ist das Meer. Herder, Freiburg im Breisgau, 2000