Der Schlund


Beim Texten gelingt nichts sofort. Nicht einmal der Anfang. Meistens geht es so: „Ah, Chef, was gibt’s? Ein dringender Auftrag vom Kunden Superwichtig. Geht klar. Mach ich. Bis wann muss der Text fertig sein? Heute! Gut, das heißt ich habe noch gestern Zeit.“ Der Chef legt mir das Briefing auf den Tisch und geht zurück in sein Büro. Er geht mit der Gelassenheit eines Generals in Zeiten, in denen nur die anderen Länder Krieg führen. Ich bin ein anderes Land. Und die nächste Schlacht liegt vor mir. Ich widme mich dem Brief vor mir auf dem Tisch: Das muss neues Papier sein, es ist irgendwie weißer. Und die Schrift. Irgendjemand muss sich einen Spaß erlaubt haben. Denn sie so klein, dass ich meine Brille abnehmen muss und mit der Nase die Tinte rieche, während ich lese: „Mach alles so wie immer zum Thema deiner Wahl. Nur schneller.“ Oder bilde ich mir das nur ein. Nein, das steht da. Ich blicke auf, starre kurz in die Luft und sehe noch einmal genauer hin. Diesmal ertaste ich was dort steht: „Bitte fassen Sie die Funktion unseres ultraschallbetriebenen Transistorföns in weniger als 100 Wörtern lecker und sexy zusammen. Die Kunden müssen für dieses Ding vor unseren Läden campieren.“

Ok. Alles klar. Dachte ich es mir doch. Ich war zu nah dran. Jetzt ist alles klar. Ich lehne mich zurück und drücke die Lehne meines Bürostuhls ganz nach hinten. An der Decke meines Büros sind Risse im Beton. Ach nein, nur die Farbe blättert ab. Wann wurde hier wohl das letzte Mal gestrichen? Immerhin sind wir schon seit fünf Jahren in diesen Räumen. Wurden die seither noch mal renoviert? Ich glaube nicht. Oder war ich da gerade im Urlaub? Nein, kann nicht sein. Ich hatte noch nie Urlaub. Zumindest nicht, dass ich das gerade wüsste. Oder doch? Letzten Montag hatte ich frei. Was war da noch mal? Aha. Ich besuchte alte Freunde in meinem Studienort. Mensch, das war richtig gut. Wir haben so auf die Kacke gehauen, dass ich die komplette Woche krank war. Aber das kann auch daran gelegen haben, dass alle um mich herum krank waren, und mich krank gemacht haben. Schließlich ist Grippezeit. Und wenn man sich nicht immer und überall schützt. Jaja. Aber wie soll man das bitte anstellen. Schutz beim Sex ist OK. Nein, natürlich Pflicht. Aber sonst? Ich kann doch nicht alles sterilisieren.

Hat nicht Chris gestern von seinem Opa erzählt, der immer sagte, was uns nicht schmeckt ist Dreck? Nein, es war anders: Was uns nicht umbringt, reinigt uns? Irgendwie so war es. Auf jeden Fall muss man Karotten aus dem Garten nicht waschen, wenn man nicht in einem Gebiet lebt, in dem alle Industrieabgase abregnen. Aber tu ich ja nicht. Allerdings hab ich auch keinen Garten. Also wasch ich lieber alles. Das stand auch gestern in der - wo noch mal? Ich habe gestern doch gar nichts gelesen. Wann habe ich das letzte Mal etwas gelesen. Hm. Ah, richtig. Vorhin. Das Briefing das vor mir liegt. Was war damit noch gleich? Bis morgen soll es fertig sein. Na dann fang ich mal an!

"Jung sein..." von Marc Aurel

Die Jugend kennzeichnet nicht einen Lebensabschnitt,
sondern eine Geisteshaltung;
sie ist Ausdruck des Willens,
der Vorstellungskraft und der Gefühlsintensität.

Sie bedeutet Sieg des Mutes über die Mutlosigkeit,
Sieg der Abenteuerlust über den Hang zur Bequemlichkeit.
Alt sein bedeutet nicht, viele Jahre gelebt zu haben.
Man wird alt, wenn man seine Ideale aufgibt.

Die Jahre zeichnen zwar die Haut.
Ideale aufgeben aber zeichnet die Seele.
Vorurteile, Zweifel, Befürchtungen
und Hoffnungslosigkeit sind Feinde,
die uns nach und nach zur Erde niederdrücken
und uns vor dem Tod zu Staub werden lassen.

Jung ist, wer noch staunen und sich begeistern kann.
Wer noch wie ein unersättliches Kind fragt: Und dann?
Wer die Ereignisse herausfordert
und sich freut am Spiel des Lebens.

Ihr seid so jung wie euer Glaube.
So alt wie eure Zweifel.
So jung wie euer Selbstvertrauen.
So jung wie eure Hoffnung.
So alt wie eure Niedergeschlagenheit.

Ihr werdet jung bleiben, solange ihr aufnahmebereit bleibt:
Empfänglich fürs Schöne, Gute und Große,
empfänglich für die Botschaften der Natur,
der Mitmenschen, des Unfasslichen.